#2 FREIE FOLGE: eine kritisches portrait

…in Fortsetzung von #1 FREIE FOLGE: eine kritische Exkursion, erscheinen an dieser Stelle ausführliche Portraits des Autors Thomas Kunst: auf der Grundlage von Rezensionen seines Romans Freie Folge, einem Interview mit dem KU[E]NST[LER] sowie seiner musikalischen Lesung am 1. Dezember 2015 in der Nationalbibliothek Leipzig…

> Felicias Galant: Worte, die ein Gesicht bekommen

> Antonia Gersch: Authentische Folgwidrigkeit

> Franziska Welke: Im Strom einer Freien Folge

> Josephine Behrens: Über die Tristesse des Alltags

> Maden Stiebler: völlig ungeku[e]nstelt!

> Sophie Suske: Thomas Kunst ist aufgeregt

> Anne Nentwig: Bewusste Zumutung mit Copy und Paste

> Bettina Müller: Freigeist ohne Zielgruppe

> Lysann Linke: Der ‚Kunst‘ der freien Folge

> Lotta-Clara Löwener: Einmal LSD mit MDMA im Wald, bitte!

> Lucie Klysch: Und wieder geht’s von vorne los

> Franziska Püschel: Der düstere Mikrokosmos der Austauschbarkeit

> Sophie Herrmann: Ist das ‘Thomas Kunst‘ oder kann das weg?

 

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kritischepraxis

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10 Gedanken zu „#2 FREIE FOLGE: eine kritisches portrait“

  1. Gegoogelte Schönheit und austauschbare Einsamkeit.

    Er habe eine anbetungswürdige Frau gesucht. „Ich hatte den Namen, Pipaluk, aber noch keine Gestalt dazu, deswegen habe ich bei Google ´junge schöne Eskimofrau´ eingegeben“. Das Bild wurde ausgedruckt und auf den Schreibtisch zu stellen. So führt Autor Thomas Kunst das Publikum an diesem ersten Dezember in seine zweite Kostprobe ein, die in Grönland spielt.

    So wie man sich seine Inspiration einfach bei „Google Bilder“ auswählen kann, ist der ganze Roman ein poetisches Beispiel für die Entindivualisierung von Menschen, Gefühlen und Orten. Denn obwohl sich die Bühne verändert, wiederholt sich das Schauspiel immer wieder. Egal ob es Hohendreesen, Grönland oder Los Angeles ist.

    Kunst behauptet, diese Orte vollkommen willkürlich ausgewählt zu haben. Wenn man schon in Neufundland ist, warum nicht gleich noch nach Grönland weiterziehen. „Ich schreibe einfach drauf los.“ Doch dafür scheinen so viele Details, die anfangs wirklich befremdlich und willkürlich erscheinen, fast wie im Rausch verfasst, am Ende doch so geplant, sarkastisch, sinnvoll. Tropical Island oder das Grundstück der jagdbegeisterten Familie, welches, trotz immenser Größe, genau einen Hektar zu klein ist, um darauf zu jagen. Kunst ist ein Paradoxon, sein Roman nicht minder.

    Anonyme Protagonisten, deren Beschreibung „zu weit führen“ würde. Immer gleiche Passagen, Briefe, Gedichte und Jäger-Fachwissen in einen Mikrokosmos, der von nichts Weiterem zeugt, als einer emotionslosen, vorgetäuschten Wirklichkeit in der es kein Glück mehr zu geben scheint. Frauen sind austauschbare „Fick-Objekte“, Männer alkoholkranke Tiere in der Midlife-Crisis und Kinder entinfantilisierte Sadisten, die Hunde und Au-Pair-Mädchen malträtieren. Es ist nicht schwer, den Faden zu verlieren, trotzdem bleibt am Ende ein düsteres Gesellschaftsbild bestehen.

    Das Verstehen dieser immanenten Wirklichkeit wird dem Leser nicht leicht gemacht. Man selbst wird zum Analysten, der versucht die mystischen Schnipsel zu einem passenden Gesamtbild zusammenzufügen. Das gespannte Warten auf einen Handlungsstrang verliert sich spätestens bei der Hälfte in Ermüdung. Dann knallt plötzlich ein Satz in die unermüdlichen Wiederholungen, der Erlösung verspricht. Doch nichts passiert.
    Dass der Roman hauptsächlich aus Wiederholungen besteht, jedoch nicht von ihnen lebt, verheimlicht Thomas Kunst den Anwesenden bei seiner Lesung in der Leipziger Nationalbibliothek. „Das Buch ist eine Zumutung“, gibt er offen zu. Wer jedoch zum ersten Mal die beruhigend vorgetragenen Passagen vernimmt, wird dies kaum verstehen. Die Vergangenheit des osteuropäischen Au-Pair-Mädchens, bevor es mit schönen Brüsten und fehlender Oberschenkelbehaarung in Hohendreesen fehl am Platz ist. Wilde Zeiten in Grönland, inklusive Menage-à-trois mit Pipaluk und Hulda, geheizt wird mit abgebrannten Arbeiterbaracken. Das Treffen mit Birte Hemingway im Park. Die selbstständigen Kinder, die sich, erwachsen geworden, in LA verschanzen. Das ganze abwechselnd untermalt von Kunsts gutem Freund „Koulou“ am Klavier, der oft selbst herzzerreißend über diese kuriosen Geschichten lacht.

    Zugegeben: Thomas Kunst ist fast das Gegenteil von dem, was man erwartet, wenn man den Roman nach 247 Seiten erschöpft und erleichtert weglegt. Wenn man auch das gelesen hat, was der Autor nicht vorgelesen hat – sprich: „die Zumutung“, sprich die endlosen Repetitionen. Kein aufgeplusterter, selbstsicherer Typ der sich am „Ich bin Kunst“- Gedanken verschluckt hat, sondern einer der sagt „Ich bin Kunst und habe die ganze Zeit Copy-Paste benutzt, weil ich das Zehnfingersystem nicht beherrsche. Und zu meiner Lesung in Dresden ist niemand gekommen.“ Er ist einer der aneckt, aber auf sympathische Weise. Einer der sagt: Ich verwende nie Fragezeichen“ und in „Freie Folge“ findet sich kein einziges.

    So wie diese Fragezeichen im Roman fehlen, so bleiben sie doch nach der Lektüre bestehen. Statt einer konstanten Handlung bildet sich ein Strudel, der es jedoch nicht schafft einen Sog zu entwickeln. Thomas Kunst scheint ein Meister der Verwirrung zu sein. Als Mensch, wie als Autor. Denn vielleicht ist es genau dieses Nicht-Verstehen, das zur Reflektion führt. Auf gewisse Weise ist es überraschend, wie lange die Zeilen nachwirken. Auch wenn man quasi nichts wirklich erfahren hat, bleibt das Gefühl des Vertrauten bestehen. Man könnte fast meinen Ioana, Ihde, Pipaluk, Hilda, die Kinder, die Hunde und was weiß ich noch alles zu kennen.

    Hat Thomas Kunst das so beabsichtigt? Was haben die ominösen Kühltruhen zu bedeuten? Und die perversen Tierärzte, bei denen Ioana früher mal gelandet ist? Was treiben die Kinder im Wald? Und, und, und.
    Kunst wird wahrscheinlich darauf antworten, dass er eben Lust darauf hatte. Vielleicht ploppte beim Surfen ein Werbefenster mit Kühltruhen auf. Man weiß es nicht und wird es auch nie erfahren, selbst wenn der Autor die Frage beantwortet. Was jedoch bleibt ist neben vielen Fragen ein besonderer Eindruck, ein Nachklang, die Inspiration dazu, Lücken zu füllen. Auch wenn das Material dazu austauschbar ist. Aber so ist es eben in unserer heutigen Gesellschaft. Und wem nichts einfällt, der kann ganz einfach mal googeln.

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  2. Und wieder geht’s von vorne los.

    In „Freie Folge“ springen wir von Seite zu Seite, wird in präzisen Details von den Weiten der Nordischen Wälder erzählt und wie ein einzelner Mensch in diesen Weiten gefangen sein kann. Aber wie der dressierte Vogel immer wieder bedingungslos zu seinem Falkner zurückkehrt, so kommt auch der Leser immer wieder zurück zum Anfang des Buches. Und wieder geht’s von vorne los. Im Gespräch mit Thomas Kunst erweist sich der Titel dann als eine Leseanweisung, d.h. dem Autor vertrauen, auch wenn der erwartete Plot eines konventionellen Romans ausbleibt. Die Handlungsorte sind frei erfunden, er wählt sie willkürlich und intuitiv – keine Spur von linearen Erzählsträngen. Er arbeitet geschickt mit rhetorischen Mitteln. Er setzt Wiederholungen nahezu in jedem Kapitels ein, wobei die Aussage jedes mal ein kleines bisschen verstärkt und eindringlicher wird. Als unvorbereiteter Leser zweifelt man durchaus an seinem klaren Verstand und fragt sich, ob man das Buch eventuell rückwärts liest. Und wieder geht’s von vorne los. Es bedarf ein wenig Zeit um sich dem Kunstgriff des Autors bewusst zu werden. Inhalt des Buches ist die Geschichte einer Familie, die aus einem Ehepaar, zwei Kindern, dem Au-Pair Mädchen und zwei Hunden besteht. Wiederholt sich zwar zu Beginn in fast jedem Kapitel die steife Beschreibung und Ansichten der einzelnen Personen wie ein Refrain, entwickeln sich doch zum Ende der Kapitel immer mehr neue Eigenschaften jedes einzelnen Familienmitglieds heraus. So wird klar, dass die wohlhabende Familie in der Nordischen Provinz alles andere als glücklich ist und jeder sein Laster zu tragen hat. Die Vergangenheit des Au-Pair Mädchens findet sich im Escort-Service wieder und das arbeitsbedingte Fernbleiben des Vaters unter der Woche ist für ihn Himmel auf Erden. Und wieder geht’s von vorne los.
    Die Masse an Aufzählungen und Wiederholungen machen es wirklich schwer, nicht die Konzentration zu verlieren. Doch was klar wird – Thomas Kunst ist ein Wortkünstler, viel mehr ein Poet als klassischer Romanautor. Er verwendet die Wörter so akribisch, dass der Roman wie ein 250-seitiges Gedicht erscheint. Er selbst entfernt sich davon seinen Roman in eine Genre-Schublade zu schieben und verwendet mehrfach die von einem Leser geäußerte Kritik – eine Zumutung. „Verwirrende Bücher prägen am meisten“, sagt er und dass er mit all den Aufzählungen und Wiederholungen den Leser in den Wahnsinn treiben will. Nachdem man das Buch im harten Kampf mit der eigenen Geduld beendet hat, kann einem das Gefühl einer experimentellen Erfahrung aufkommen – das Gefühl, etwas Neues probiert zu haben. Was schon im Gespräch mit Thomas Kunst auffällt, er will den Leser bzw. Zuhörer provozieren oder eher an seinem Geduldsfaden zerren. Zu Beginn wählt er ein Kapitel, indem es sich um das Au-Pair Mädchen Ioana dreht. Aufzählungen, die ihr Leben und das ihrer Eltern erläutern. Immer im Wechsel mit dem Satz »und was weiß ich noch alles« – sechs Seiten lang. Die Stimme langsam, niederschmettern, gleichgültig. Und wieder geht’s von vorne los. Doch, aufgrund der Langatemigkeit vom Autor als Zumutung und Provokation vorgewarnt, schien diese Passage des Buches beim Großteil des Publikums Erheiterung ausgelöst zu haben. Immer wieder strömt lautes Lachen durch den Raum. Lachen auch bei drei weiteren Leseproben. Ganz gleich, ob es sich um die wirre Dreierbeziehung zu zwei Inuitdamen dreht oder um das verrückte Leben der Kinder von Ihde in Los Angeles. Lachen nur dann nicht, wenn nach Ende jeder Leseprobe ein aufgeregter Pianist die von Thomas Kunst’ ausgewählte Klavierstücke zum Besten gibt. Was die Lesung bzw. das Zuhören vom eigenen Lesen unterscheidet ist, dass man einen Hinweis bekommt, wie man „Freie Folge“ zu verstehen hat. Es ist eben nicht nur einfach die Verrücktheit des Autors oder die Verschriftlichung seiner zur Hybris neigenden Tendenzen gegenüber dem herrschenden Literaturbetrieb. Zwei Sichtweisen tun sich auf: entweder man interpretiert die ständigen Wiederholungen und Aufzählungen als Ausdruck der schonungslosen Belanglosigkeit und liest sich mit Zynismus durch das Buch oder man registriert nach jedem Kapitel wie unendlich traurig und beklemmend dieses düstere Kammerspiel ist. Manche bezeichnen Thomas Kunst’ „Freie Folge“ als avantgardistisch, andere beharren auf die Beurteilung, dass das Buch unzumutbar sei. Und genau das ist die Absicht des Autors. Egal wie gut oder schlecht man das Buch beurteilt – es ist besonders, es wird ein Alleinstellungsmerkmal in unseren Bücherregalen einnehmen. Wir werden uns noch lange daran erinnern.

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  3. „Der Kunst“ der freien Folge
    Trifft man Thomas Kunst in der Deutschen Nationalbibliothek an, wo er täglich in Leipzig arbeitet, würde man auf den ersten Blick nicht vermuten, dass er an seinen Wochenenden und Urlaubstagen Bücher schreibt. Ganz normal in Jeans und Turnschuhen begrüßt er uns. Wie der Kunst selbst sagt, ist „Freie Folge“ kein typischer Roman. Er wundert sich sogar selbst, dass er „ das Ding“ als einen solchen bezeichnet.
    Das Buch könnte aber keinen besseren Titel haben. In genau dieser freien Folge werden Episoden, Geschichten und Gedichte aneinander gereiht, die sich im Buch verlaufen. Man steigt von einer in die andere. Die Protagonisten und die Schwerpunkte der Geschichten ändern sich. Auch die wechselnde Erzählerperspektive beeinflusst das. Das irritiert und stört den Leser.
    In den Geschichten erscheinen Elemente, wie sich ständig wiederholende Formulierungen, die man bereits vorher gelesen hat. Man ist verwirrt und findet es langweilig. Die Geschichte wird nicht vorangetrieben. Aber sicherlich ist es ein bewusst eingesetztes Stilmittel des Autors. Er schafft damit eine gewisse Ähnlichkeit und zeigt eine Regelmäßigkeit zwischen den verschiedenen Handlungssträngen auf, denn sie haben alle das zentrale Thema Heimat und Sehnsucht nach dieser: egal ob in den Wäldern von Hohendreesen, in Grönland oder Los Angeles – es geht um Menschen, deren Lebenswege und Lebenswirklichkeiten. Eigentlich werden die Charaktere kaum beschrieben. Wahrscheinlich würde diese auch nur von der ausschweifenden, detaillierten Beschreibung der äußeren Umstände ablenken, denn der Fokus wird eher auf die Umgebung und die Landschaften gelegt. Gegenden in denen die Handelnden leben, die sie prägen, ihren Alltag beeinflussen, haben einen viel höheren Stellenwert. Einerseits wird durch die nur wenigen Kommentare zu den Personen die Fantasie des Lesers anregt. Auf der anderen Seite ist es für ihn aber schwieriger, den Einstieg in die Geschichte zu finden. Sie zu greifen und vor allem zu begreifen.
    Zum Interview hat sich Thomas Kunst umgezogen. Er tritt als Autor auf und nicht als Bibliotheksmitarbeiter. Er trägt ein weißes ungebügeltes Hemd, ein schwarzes Jackett und auffallend viel Schmuck. Anfangs wegen des Wechsels leicht irritiert, hört man ihm jetzt neugierig zu. Denn vor einem steht nicht ein möglicherweise exzentrischer Künstler, sondern ein normaler, sympathischer Mensch. Ist man seinem „Kunstwerk“ gegenüber eher negativ eingestellt, überrascht er einen und stimmt ihn möglicherweise um. Kunst hat Humor und wirkt absolut bodenständig. Er ist so, wie er seine Bücher möchte: natürlich, authentisch und einfach. Kunst wirkt sehr selbstreflektiert. Er versetzt sich selbst in die Rolle des Lesers, bezeichnet sein Buch selbst als „Zumutung“. Kunst möchte den Leser zwar nicht an die Hand nehmen, aber er möchte ihn nervös machen, kitzeln, nerven, zur Weißglut bringen- damit eigentlich nur bewegen und berühren. Wahrscheinlich hat er deswegen auch fünf Jahre für das Buch gebraucht.
    Wenn man ihn erlebt, dann spürt man seine Leidenschaft für das Schreiben. Er bringt seine Worte, Gedanken, Gefühle zu Papier. Hört man ihn schwärmen über Literaten, dann sieht man den Künstler, der seine ganz eigene Vorstellung von Literatur hat und in seiner Meinung auch sehr klar ist. Er verwendet beispielsweise nie Fragezeichen. Kunst findet sie „hässlich“ und sie heben den Satz sinnlos an.
    Man sieht den Künstler aber auch durchscheinen, wenn man ihn fragt, ob er es in Ordnung findet, wenn man einige Seiten überblättert. Dann wirkt er nicht so, als wäre er beleidigt, wenn man es trotzdem macht. Aber er findet es auch nicht richtig. Vermutlich weil er dann eben seine Arbeit sieht und er auch stolz auf sie ist. Gleichzeitig erklärt er aber auch, dass in dem Buch alles bewusst so angeordnet ist. Die Reihenfolge ist nicht zufällig.
    Die Lesung ist Kunsts‘ Heimspiel. Insgesamt liest er an dem Abend vier verschiedene Passagen dem Publikum vor. Diesmal hat er Zuhörer. Eine Lesung zuvor fiel wegen Fehlender aus.
    Ein Höhepunkt an dem Abend ist die Musik. Kunst schreibt auch nie ohne sie. Ein intensiveres Lesen erlebt man bereits, wenn man die beiliegende CD hört. Die Musik versetzt den Hörer und Leser in die passende Stimmung. Die beschriebenen Landschaften wirken lebendiger und man kann sich besser in die Episoden und Charaktere reinversetzen. Sieht und hört man das Zusammenspiel von Kunst und dem Pianisten Ralf-Ingo Pampel live, dann wird den Geschichten Leben eingehaucht. Man spürt die untrennbare Verbindung des Schriftlichen mit dem Akustischen.
    Wenn er liest, ist er wieder Autor. Nur unter dem Tisch, da sieht man noch seine Turnschuhe.
    Alles in allem ist man um eine Erkenntnis reicher: der erste Eindruck eines Menschen kann genauso täuschen, wie die eines Buches. „Freie Folge“ ist kein einfaches Buch. Soll es auch nicht sein und vielleicht ist es wirklich eine Zumutung. Am Ende bleibt nur eine Frage: Hat man diesen Mut?

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  4. „Ist das ‚Thomas Kunst‘ oder kann das weg?“

    Lächelnd, sympathisch und herrlich unspektakulär sitzt Thomas Kunst in der Cafeteria der deutschen Nationalbibliothek in Leipzig und lässt sich geduldig von 15 Studentinnen des Seminars der kritischen Praxis interviewen. Im Vorfeld wurde sein Roman „Freie Folge“ von ihnen mit einer kurzen Buchkritik bewertet. Diese fiel überwiegend negativ aus – das Buch ist verwirrend, von einem seltsamen Bann, der nicht jeden erfasst. Allerdings könnte man fast meinen, dass genau diese Reaktion vom Autor beabsichtigt war.
    „Ja, mein Buch ist eine Zumutung!“, sagt er lachend und erklärt, dass er nie die Absicht hatte, einen konventionellen Roman zu verfassen, „Ich lache mich ja selbst darüber tot, dass ich das Roman nenne.“ Die ganze konventionelle Romanliteratur in Deutschland langweilt Thomas Kunst viel zu sehr, jeder sei heutzutage studiert, Hinwendung würde es keine mehr geben. Also hat er etwas Neues geschrieben.

    Die „Freie Folge“ beginnt mit dem Blick auf Ihde. Sie gehört zum Vorstand des Waldbesitzerverbandes, hat zwei Kinder und einen Mann der nur das Wochenende zuhause verbringt. Ihr rumänisches Au-Pair Mädchen Ioana war in der Vergangenheit Escortdame und geht nun hauptsächlich in der Rolle der Hundesitterin auf.
    Der Titel ist durchaus als Leseanleitung zu verstehen, man kann auch in der Mitte beginnen. Seiten überblättern sollte man allerdings nicht, auch wenn das Buch vielleicht manchmal dazu verleitet. Die Kapitel sind ziemlich kurz, endlose Aufzählungen und vor allem die ständigen Wiederholungen ganzer Sätze machen konfus aber sollen das anscheinend auch. Kunst findet dazu nämlich eine treffende Erklärung: „Bücher, die einen zur Weißglut bringen, sind Bücher, die einen prägen.“
    Die Beschreibung der einzelnen Personen „würde zu weit führen“, allerdings wird die Umgebung, die Zimmer, die Landschaft sehr präzise geschildert. Das erweckt schnell und vorerst den Eindruck, dass man sich kaum mit einem der dargestellten Menschen identifizeren kann. Die Vorstellungskraft des Lesers und vor allem seine Geduld wird in dem Sinne überstrapaziert, man regt sich auf und gleichzeitig möchte man wissen, was dahinter steckt. Und auf einmal erscheint der Text eher als eine Art Gedicht, es wirkt als würden Worte willkürlich aneinander gereiht.
    Willkürlich sind in Kunst’s Roman allerdings lediglich die Handlungplätze, die teilweise sogar ausgedacht sind. Und bei den existierenden Orten ist jede Entfernung vorher genau mit Google vom Autor ausgerechnet worden. Das will er sich nicht vorwerfen lassen. Genau darauf pocht Thomas Kunst: „Nichts ist willkürlich, auch wenn es durch die lähmende Wiederholung so wirkt.“ Sein einziges Ziel war es, den Leser nervös zu machen und das hat er mit Bravour gemeistert, auch wenn er zur Fertigstellung des Buches fünf Jahre brauchte.

    Im Anschluss an das Interview folgt die Lesung zu seinem Buch. Der kleine Saal ist fast komplett besetzt – im Gegenteil zur Premiere in Dresden. Diese musste abgesagt werden, weil kein einziger Zuhörer erschien. Thomas Kunst lässt diese niederschmetternde Tatsache nebenbei einfließen, ist dabei aber unglaublich stolz und gerührt, dass durch diesen Umstand die eigentliche Premiere nun an seinem Arbeitsplatz stattfinden darf.
    Mit ruhiger, klarer Stimme liest er vier Passagen und wird in den Pausen von seinem guten Freund Ralf-Ingo Pampel eindrucksvoll und leidenschaftlich am Klavier unterstützt. Je mehr er liest, oder besser: je mehr er seine Gedanken zu den Kapiteln beschreibt, äußert, umrahmt und in Worte fasst – desto sympathischer erscheint Kunst. Die Klänge des Flügels zwischen den Kapiteln lassen die Worte nachklingen, wirken als wären sie notwendig um das Buch zu verstehen. Deshalb ist jeder Ausgabe wohl auch eine CD mit dem Soundtrack zum Roman beigelegt. Man liest und hört also gleichzeitig, man verschwindet im Buch und in der Musik.
    Die Lesung ist ingesamt von vielen Lachern untermalt, auch wenn man sich das mit dem ersten Eindruck des Buches schwer vorstellen kann. Aber wenn Kunst mal wieder „das Gefühl“ hat, etwas machen zu müssen, sei es über Los Angeles zu schreiben oder sich einen afrikanischen Namen zuzulegen (seine Frau zieht dann selbstverständlich mit, genau wie Ralf-Ingo Pampel), dann tut er das eben. Und genau so entsteht ein Zusammenspiel von Wörtern, ein verkappter Gedichtband, Birte Hemingway, Wiederholungen, kein lineares Erzählen, keine Fragezeichen. Die mag er nicht, weil sie den Satz nur unnötig anheben.

    Thomas Kunst macht seinem Namen alle Ehre. Sein Werk ist anders, speziell, neu und unkonventionell. Und genau aus diesem Grund auch nicht Jedermanns Sache. Sucht man als Leser eine entspannte Lektüre mit gewohntem Plot, wird man hier nicht gerade fündig. Allerdings empfindet der Autor seinen Roman selbst als „durchaus verstehbar“ und nicht nur für Literaturwissenschaftler geeigenet. Natürlich bleibt am Ende nur eine Möglichkeit – ‚Kunst‘ selbst erforschen, entdecken und entscheiden:
    Ist das ‚Thomas Kunst‘ oder kann das weg?

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  5. Bewusste Zumutung mit Copy und Paste

    Freie Folge von Thomas Kunst ist, wohl einer der seltsamsten Romane, der im Moment in der deutschen Gegenwartsliteratur existiert. Bereits in den ersten Sätzen wird klar: dieses Werk ist kein klassischer Roman. Spätestens nach den ersten Wiederholungen ganzer Textpassagen ist die Verwirrung beim Leser groß. Was genau möchte Kunst dem Leser damit sagen? Kann man mit Copy und Paste ein ganzes Buch verfassen?
    Was er dem Leser mit seinem Roman sagen will, kann Kunst selbst nicht genau erklären. Und ja, man kann mit Copy und Paste ein ganzes Buch verfassen, wie sich im weiteren Gespräch mit dem Autor, vor seiner Lesung in der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig, herausstellt. Mit roter Trainingsjacke, wirrem Haar und dicken Ringen sowohl an der rechten, als auch an der linken Hand, stellt sich Thomas Kunst den Fragen der Kritiker. Dabei wirkt er live so ganz anders, als man es sich während der Lektüre vorstellt. Freundlich bietet er sofort das „Du“ an und erklärt lächelnd, jedoch auch voller Ernst: „Ich weiß ja, dass das Ding ne Zumutung ist“. Und doch, oder gerade deshalb ist Kunst stolz darauf, eine solche Zumutung geschaffen zu haben. Für ihn muss es nicht immer der Klassische Roman sein, er will nicht der breiten Masse gefallen. So muss der Leser nach 247 Seiten Freie Folge feststellen, dass es im gesamten Roman keine richtige Handlung, geschweige denn eine Entwicklung gibt. Warum, wird im Interview schnell deutlich. Plott ist, so findet Kunst, das schlimmste Wort in der Literaturwissenschaft und wenn er es höre, müsse er anfangen zu kotzen.
    In Freie Folge erzählt Kunst zunächst die Geschichte einer Familie, die auf einem riesigem Anwesen mitten in der Pampa, irgendwo in Nirgendwo Norddeutschlands lebt. Sie beschäftigen ein attraktives Au-Pair aus dem osteuropäischen Ausland. Der Vater ist nur am Wochenende zu Hause. Im Laufe des Romans erfährt der Leser einiges über die verschiedenen Charaktere und weiß doch gleichzeitig nichts über sie, ja nicht mal all ihre Namen. Im Laufe des Romans wechseln mitten im Text die Erzählperspektive, Handlungsorte und Charaktere, während Kunst immer wieder altbekanntes wiederholt. Hohendressen, Nolten, Neufundland, Grönland und L.A. Ein namenloser Mann, Iona, Ihde, Pipaluk; Hulda und Birte Hemingway. Die Orte im Roman hat Kunst selbst nie besucht. Nein, er wählte sie ganz willkürlich aus, manche erfindet er. Ständige Wiederholungen ziehen sich tatsächlich bis zum Ende des Romans durch. Wörter, Satzgruppen, kurze Sätze und endlose Aneinanderreihungen lassen den Titel Freie Folge selbsterklärend erscheinen. In der Tat sieht Kunst darin eine Art Leseanleitung, eine Einladung den Worten einfach zu folgen, sich auf die scheinbare Zufälligkeit einzulassen. Theoretisch könnte man auch mitten im Buch anfangen zu lesen, gibt der Autor zu. Auch wenn Thomas Kunst, Musik hörend, laut eigener Aussage, einfach intuitiv drauf los schreibt, überlässt er im Roman tatsächlich nichts dem Zufall, wie es für den Leser zunächst scheint. Hat Kunst mal wieder eine Seite Text mit Copy und Paste gefüllt, verändert er schließlich bewusst kleine Details, die womöglich selbst dem aufmerksamsten Leser vorerst nicht auffallen.
    Von den kleinen Veränderungen, den ständigen Wiederholungen und Aneinanderreihungen wissen die Zuhörer in der Lesung am ersten Dezember nichts. Kunst gibt vier verschiedene Textstellen zum besten. Zwischendurch spielt Ingo Pampel, auch „Koulou“ genannt, ein guter Freund von Thomas Kunst, einige ausgewählte Eigenkompositionen auf dem Klavier. Als Kunst mit angenehm beruhigender, fast schon monotonen Stimme beginnt, bekommen die Zuhörer einen ersten Eindruck vom Roman, der sich eigentlich nicht so ganz in das Genre einordnen lässt. Vorgetragen und mit einer kurzen Erläuterung zu Beginn wirken die Worte zwar noch immer etwas wirr, jedoch schon weniger befremdlich. Selbst die erste Stelle, bei der ganze sechs Seiten aus willkürlichen Aufzählungen und einem immer wiederkehrendem „und was weiß ich noch alles“, wirken nun doch beinahe poetisch. Zuhören ist in der Tat deutlich angenehmer als selbst zu lesen. Während er liest ist immer wieder Gelächter zu vernehmen. Thomas Kunst stört das jedoch eher wenig, hatte er im Gespräch zuvor doch erwähnt, er fände es gut, wenn man auch mal über Literatur lachen könne.
    Thomas Kunst ist ein Ausnahme-Autor, der gern provoziert, sich von der Masse abhebt und dabei „authentisch, natürlich und einfach sein“möchte. In seinem Roman spielen Teelöffel, Kühltruhen und die haarlose Oberschenkelbehaarung verschiedener Frauen eine tragende Rolle. Protagonisten und Orte sind austauschbar und immer wieder folgen endlosen Wiederholungen. Der Autor kreiert einen Flickenteppich, bei dem jedoch nicht wirklich klar wird, wie diese Flicken miteinander verknüpft sind. Abrupte Wechsel und fließende Übergänge der Perspektiven lassen den Leser wieder und wieder stutzig werden. Die Verwirrung vom Anfang und die Fragezeichen im Kopf lösen sich auch nicht zum Ende des Romans. Fragezeichen verwendet der Autor übrigens im ganzen Roman nicht, da er sie nicht mag. Zurück bleibt ein Gefühl von Einsamkeit, Fremde und der Sehnsucht nach zu Hause.

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  6. Thomas Kunst ist aufgeregt. Das ist er sonst nie. Heute aber, an diesem tristen Dezemberdienstag, liest er zum ersten Mal aus seinem neuen Roman Freie Folge in der Nationalbibliothek in Leipzig vor. Einem Ort, an dem der Schriftsteller sonst eher Besucher betreut, statt sich seiner eigenen Kunst hinzugeben. Zu seiner ersten Lesung in Dresden Mitte September kam niemand. Das hat er so auch noch nie erlebt und dieser leere Zuschauerraum, der wie ein dunkles Damoklesschwert über seinem Werk zu hängen drohte, ließ Kunst in der Angst zurück, dass „der ganze Scheiß so weitergeht, wie er es nicht anders gewohnt ist“. Doch Kunst muss sich an diesem Abend Anfang Dezember über einen weiteren leeren Saal keine Sorgen machen. In dem in warmen weiß gestrichenen Raum mit honigfarbenen Parkett warten einige Dutzend Besucher gespannt auf seine ersten Worte. Schräg hinter ihm sitzt sein Freund Ralf Ingo Pampelt vor einem überdimensionalen Flügel, er wird die abendliche Reise durch die Freie Folge musikalisch begleiten. Die Lesung beginnt mit einem Klavierstück, und schnell wird den Besuchern klar, wie es aussieht, wenn ein Musiker völlig in seinen Stücken versinkt und sich auf eine Reise weit außerhalb der für die Anwesenden vorstellbaren Welt begibt. Dieser Eindruck ist während der gesamten Lesung nahezu greifbar, wenn Kunst Auszüge aus seinem Roman vorliest und Pampelt abwechselnd Klavier spielt. Unter seiner eigentümlich warmen Stimme bekommen die Wörter plötzlich ein Gewicht, werden von einer mehr oder weniger zusammenhangslosen Anreihung von Buchstaben zu Worten, die eine echte Geschichte erzählen. Diese Geschichte gibt Kunst völlig befreit an seine Hörer ab und lässt dadurch Bilder entstehen, die manchem Leser vielleicht gerade erst in diesem Moment vor dem inneren Auge erscheinen. Dabei wirkt der Mann mit den silbrig-grauen Locken und den unzähligen Klunkerringen so gänzlich anders als man ihn sich bei der eigenen Lektüre der Freien Folge vorgestellt hat. Mit einem kleinen Augenzwinkern und fernab jeglicher Konventionen erzählt Kunst nebenbei noch von dem Alltagswahnsinn eines im Abwasch liegenden Teelöffels, dessen Mulde nicht besser und nicht schlechter in der Spüle plaziert sein könnte, wenn der Wasserstrahl auf sie trifft und wie er die Bildnisse zweier schöner Inuitfrauen bei Google fand.
    Der Inhalt der Freien Folge ist scheinbar schnell erklärt. So spielt sie an fantasierten und existierenden Ländern und Städten gleichzeitig, wie beispielsweise Hohendreesen, Nolten, Neufundland, Alaska, Twillingate, Fogo, Grönland, Rumänien und Los Angeles. Dann ist da dieser namenloser Vater, der nur am Wochenende zu Hause ist und nie auf die Idee kommen würde, seine Waffe zum Niederdrücken von Zäunen beim Übersteigen zu benutzen, eine Mutter, die ihre Kinder nacheinander liebt und zu lange Abende auf Waldbesitzervorstandssitzungen verbringt. Ein rumänisches Au-Pair Mädchen mit Escort-Vergangenheit und fehlender Oberschenkelbehaarung, zwei Kinder, die Teelöffel in Bedienstetenschuhe legen sowie zwei Jagdhunde mit ferngesteuerten Erziehungshalsbändern. Dies alles auf vierundsiebzig Hektar Land, einem umzäunten Hof in ziemlicher Ruhe.
    Das Werk besteht aus der Aneinanderreihung mehr oder weniger passender Wörter mal zu satzähnlichen Konstruktionen, mal lose in der Luft hängenbleibenden, gedichtähnlichen Versen, mal aus Briefen mit Fragen ohne Fragezeichen, die Klarheit bringen könnten, es aber kaum tun sowie langen Abhandlungen über was weiß ich nicht alles. Dem Leser fällt bei der Lektüre des Buches jedoch vor allem eins ins Auge: der nicht enden wollende Strom an Wiederholungen, der das Lesen so anstrengend macht. Die Geschichte folgt keinem klaren Handlungsstrang, wirkt eher wie das Ergebnis eines Experimentes mit psychodelischen Substanzen. Nicht selten tauchte in Kritiken über den Roman das Wort Zumutung auf. Ein vernichtendes Urteil, doch Kunst empfindet es als stark und schön. Sympathisch und mit einem Lächeln erklärt er: „ich weiß ja, das Ding ist eine Zumutung“. Und so ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass er die Lesung mit den Worten: „Da mute ich Ihnen also etwas zu“ einleitet.
    Das Konzept, einen Roman zu verfassen, der im herkömmlichen Sinne nicht mal einer ist, hat Kunst von Anfang an beabsichtigt. Nichts hat er beim Schreiben dem Zufall überlassen. Auch hatte der Autor nie das Ziel, einen richtigen Roman zu verfassen, da es, wie er selbst sagt, in seiner Arbeit immer ein wenig zu viel Bewegung zwischen Prosa und Lyrik gibt. Diese Bewegung ist deutlich spürbar und daher beschreibt der Romantitel Freie Folge nicht nur Greifvögel, die ihrem Falkner frei von Baum zu Baum folgen, sondern stellt gleichzeitig eine Anleitung zum Lesen dar. Denn weder gibt es eine festgelegte Handlung der Geschichte im Buch selbst, noch findet der Leser eine, wenn er die 247 Seiten schwarzbedruckten Papieres in der Hand hält. In Kunsts Roman wird zugleich alles und nichts gesagt. Die Worte sind nicht einmal durch sich selbst zu ersetzen, was auch immer das zu bedeuten mag. Und so bleibt der Zuschauer vielleicht nicht nur mit dem Wunsch nach Schnaps mit Zucker, Pfeffer und geraspelter Zitronenschale zurück, sondern auch mit der Frage: Wofür das alles?

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  7. Einmal LSD mit MDMA im Wald, bitte!

    Man nehme einen Protagonisten, lasse ihn sich in eine Unbekannte unsterblich verlieben sowie sich von ihr verlassen, packe ihn auf einen ordentlichen Candyflip und dokumentiere jeden Strom seiner Gedanken auf 247 Seiten. Nun erhält man Thomas Kunsts ganz eigene Interpretation eines Romans. Dieser ist nun kein Hunter S. Thompson und würde sich höchstwahrscheinlich mit Händen und Füßen dagegen sträuben als Gonzo-Journalist betitelt zu werden. Dennoch greift er mit seinem polemisch-poetischen Werk „Freie Folge“ diverse Stilmittel dieses auf. Es ist ein Journalismus, der ohne Überarbeitung und nicht selten unter Einfluss diverser psychedelischer Rauschmittel niedergeschrieben wird. Für den Leser ist dabei schwer auseinanderzuhalten was wirklich erlebt und was der halluzinogenen LSD-Fantasie entsprungen ist. Kunst mag sich hierbei nicht tranceartiger Drogen bedient haben, gesteht jedoch nie ohne Beschallung verschiedenster Komponisten zu schreiben. Ob dieser musikalische Rausch bei ihm bewusstseinserweiternd wirkt oder nicht, lässt sich als Leser schwer beurteilen, doch schon Thompson versuchte die echte Wahrheit zwischen Fakten und Fiktion zu finden. Was an Kunsts Werk ist aber echt?

    Kunst selbst meint, er wolle authentisch und einfach sein. Ersteres gelingt ihm schon mal ganz gut, wenn er unserer Gesellschaft die düstere Monotonie des Alltags vor Augen führt. Doch die Parallele zu Thompson taucht auch hier wieder auf, welcher stets seine drastischen Schilderungen der erlebten Drogentrips mit grundlegender Kritik an der amerikanischen Gesellschaft verband. Leider ist Kunsts Literatur aber so einfach wie das erste Bauen eines Joints im Halbdunkel eines Schuppens, den man sowieso nur betreten hat, weil man eh schon drauf war. Geraten sei dem Leser also die Geschichte um eine ätzend spießige Familie in Hohendreesen, die schwindelerregenden Orgien mit Pipaluk und Hilda in Grönland sowie die Bandenkriege mit der Mara Salvatrucha in LA als Horrortrip eines Junkies zu interpretieren. Hierbei durchlebt der Erzähler all diese Abstrusitäten bedauerlicherweise nicht nur ein Mal, sondern, zur Pein der Leserschaft, gleich doppelt, dreifach und eigentlich unzählbar oft. Demnach gibt Kunst offen zu große Anteile seines Werkes mit Copy und Paste verfasst zu haben. Den Leser will er bei dieser irrwitzigen, jedoch vor allem ermüdenden, Reise nicht an die Hand nehmen und scheinbar lieber mit dieser Art von „Kunst“ ärgern. Es sei aber Niemandem erlaubt Seiten zu überspringen, denn er wünsche sich dann doch, dass dieses unzumutbare Werk im Ganzen verschlungen werde. Er selbst kann zumindest über Kritik lachen, da allein positive Resonanz eher sein Misstrauen wecke als ihn in seinem Schaffen bestärke.

    So empfindet der Leser schon ab dem zweiten Kapitel immer weniger Gefallen an dem Werk und die wiedergekäuten Zeilen verleiten schnell dazu mit den Gedanken bei der eigenen Einkaufsliste zu landen anstatt weiter konzentriert auszutüfteln worum es in dem Roman geht. Für ein bisschen Abwechslung sorgt zeitweise eine urplötzlich auftauchende, kontextunabhängige Reihung melodischer Verse, welche durchaus von künstlerischem Talent zeugt. Der Autor ist sich all dieser Eigenarten sehr wohl bewusst und meint eher provokativ anecken als sich irgendeiner deutschen Literaturlandschaft anpassen zu wollen, die ihn sowieso langweile. Glücklicherweise erschienen bei seiner Lesung in Leipzig vor allem Freunde und weitere Künstler, die „Freie Folge“ als eben jene Abwechslung in der Welt der Lektüre empfanden. Daher wurde nicht nur höflich applaudiert, sondern mit geschlossenen Augen jeder vorgetragene Vers sinnlich aufgenommen. Eventuell haben sich einige Zuschauer vorher ein paar Teile eingeworfen und betrachteten die bunten Farbenspiele hinter ihren Augenlidern zu den passenden Worten aus Kunsts Mund. Es wurde aber auch überschwänglich über Passagen gelacht, die vor allem dem Anteil des Publikums nichts sagen hätten können, der sowieso nicht wusste, dass diese auch im Kontext des Buches keinerlei Sinn ergeben würden. Sein Kollegium schien jedoch ein ähnliches Humorverständnis wie er zu haben.

    Begleitet wurde der Poet von seinem guten Freund Pampel alias Koulou am Flügel, welcher in den eigenkomponierten Musikstücken völlig aufzugehen schien. Das schmerzerfüllte Gesicht überzeugte zumindest alle Anwesenden von seiner brennenden Leidenschaft für seine melodisch ungewöhnlichen Werke. Von Gewöhnlichkeit scheint bei diesem Duo sowieso nicht gesprochen werden zu dürfen. Das würde schließlich nur in die langweilige deutsche Kunstlandschaft passen. Dem Roman liegt daher, auch von Kunst selbstkomponiert, ein Soundtrack bei, welcher einen Rausch musikalisch übrigens bestens untermalen würde. Er selbst schien ein aufgeschlossener Mensch und Freund zu sein, welcher mit seiner Minimal Music als DJ im Berliner Kosmonauten besonders erfolgreich wäre. Diese Szene würde ihn lieben. Vielleicht muss man also selbst drauf sein, um sich diese Art der Kunst reinzuziehen.

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  8. Über die Tristesse des Alttags – ein Fragment

    Eine Zumutung – fast schon erfreut wirkt Thomas Kunst über diese Titulierung seines neusten Werkes und stimmt euphorisch zu. Alles andere als gewöhnlich – so präsentiert sich das bereits vierte Prosawerk „Freie Folge“ des Leipziger Publizisten und bewege sich zwischen Gedicht und Romanähnlichem, wie er selbst erklärt.
    Der vom Feuilleton gefeierte Avantgardist der Neuzeit veröffentlicht seit 1991 vorrangig lyrische Texte und wurde bereits vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem renommierten F.-C. Weiskopf-Preis der Universität der Künste Berlin. Hauptberuflich arbeitet Kunst als Bibliotheksassistent und kann nur in der Freizeit seiner dichterischen Schöpfungskraft freien Lauf lassen. Hört man Thomas Kunst über seine Literatur sprechen, eröffnet sich die Welt eines Idealisten, der nicht mit den Vorlieben der breiten Lesemasse korrelieren will und so erst nach langer Suche im Jung und Jung Verlag Leipzig seine literarische Heimat fand. Trotz dieser glücklichen Fügung kommt der Autor in „Freie Folge“ nicht umher, seine ganz persönliche Bilanz mit der Maschinerie des Literaturbetriebs zu ziehen. ‚Der Feuilleton hat sich das Knie verrenkt und macht vor Preisgekrönten einen Knicks‘ heißt es da. Dass sich Kunst mit seinen unkonventionellen Werken nicht in die Bestsellerlisten einfügt, weiß er und bekam dies unlängst zu spüren. „In Dresden fiel die Premierenlesung leider aus, da niemand erschienen war.“, witzelt der Schriftsteller. Doch davon ließ er sich nicht unterkriegen, wirkt gerührt über das zahlreich erschienene Publikum am Dienstagabend in der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig. Seine zweite doch eigentlich erste Romanpräsentation lässt die Anspannung auf Seiten des Autors sichtlich steigen. Musik erklingt. Die Worte der „Freien Folge“ fliegen durch den Raum. Die Kompositionen des Pianisten Ralf-Ingo Pampel nehmen den Zuhörer mit auf eine Reise durch Neufundland, Grönland, Los Angeles und einem Waldhaus, fernab der Zivilisation. Mit einigen Anekdoten haucht Thomas Kunst dem Werk mehr Leben ein, erzählt, wie er eines Morgens aufwachte und genau wusste, er müsse etwas über Birthe schreiben. Birthe Hemingway.

    So vielfältig, wie das Werk, so vielfältig einfältig sind die Charaktere. Egal an welche Handlungsorte der Leser entführt wird, überall kämpfen vermeintlich unterschiedliche Protagonisten mit der Tristesse und Lethargie des Alltags. Stillstand. Jegliche Versuche des Ausbruchs aus den Fängen der Einsamkeit enden erfolglos. So flüchtet sich der Familienvater in umbedeutsame Affären, versucht das rumänische Kindermädchen Ioana ihre Escort-Vergangenheit hinter sich zu lassen und interessiert sich die Mutter Ihde herzlich wenig für die Belange ihrer einfachen Dienstangestellten sowie aller anderen Mitmenschen. Stilistisch zeichnet Kunst die unterschiedlichsten Bilder, nutzt Jagdmotive, spricht von Kühltruhen und Teelöffeln. Wiederholungen reihen sich fragmentarisch an Wiederholung. Alltagstauglichkeit wird mit ganz eigenen Mitteln kreiert. Beim Leser stiftet dies Verwirrung. Stellenweise resigniert man vor der Flut an Impressionen, meint Textpassagen bereits zu kennen und wird auf eine Achterbahnfahrt der Gefühle mitgenommen. Sicherheit und Ordnung bietet der Roman nicht. Vielmehr fühlt man sich zwischen den Zeilen verloren, weiß bestimmte Schauplätze nicht in den Kontext einzuordnen. „Ich habe kein Interesse daran, den Leser an die Hand zu nehmen.“, resümiert der Autor im Interview. Das Älterwerden des Starrens auf einen Punkt. Eine Formulierung, die dem Rezipienten einige Male in „Freie Folge“ begegnet und treffender nicht sein könnte, um den Charakter des Romanes in Worte zu fassen. Die beiliegende CD untermalt die Stimmungen der verschiedenen Kapitel. Hört man genau hin, braucht es nichtmal den von Kunst eigens komponierten Soundtrack, um dem Text einen ganz individuellen Klang zu geben. Poetisch kommt das Buch daher und hinterlässt nicht nur die Frage, ob Literatur tatsächlich immer nacherzählbar und nachvollziehbar sein muss?!

    Als am Dienstag die letzten Töne des Pianos verklingen, ertönt tosender Applaus durch den Lesesaal der Nationalbibliothek. Der Autor wirkt sichtlich erleichtert. Das Wort Zumutung ist keineswegs allgegenwärtig. Alles andere als gewöhnlich, so präsentiert sich nicht nur der Roman, sondern auch sein Autor – definitiv ein Avantgardist und Idealist der Neuzeit.

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  9. Thomas Kunst. Freigeist ohne Zielgruppe. Ein Porträt.

    „Mich langweilt die ganze Romanliteratur in Deutschland viel zu sehr“

    Das weiße Leinenhemd sitzt etwas schief. Ein angenehm warmes Lächeln umspielt die Lippen von Thomas Kunst, Dichter und Denker – und vor allem: unabhängig. Humorvoll begegnet er Germanistik-Studentinnen der TU Dresden beim Interview über sein neues Werk „Freie Folge“ in der Leipziger Nationalbibliothek. Die durchwachsenen Rezensionen der jungen Literaturkritikerinnen kann er nachvollziehen. „Ich weiß ja, dass das Ding ne Zumutung ist.“, kommentiert der 50jährige seinen Roman. Der gebürtige Stralsunder vertritt seine unkonventionelle Haltung gegenüber der Gegenwartsliteratur und dem Schreibprozess an sich. Den schwer zu erfassenden Inhalt seines Buches erklärt er mit seiner Abneigung gegenüber dem Begriff „Plot“ und stellt eine reizvolle Gegenfrage: „Muss Literatur nacherzählbar sein?“
    Es komplettiert sich das Bild eines Lyrikers, der seinen Verleger ignoriert (welcher ihn auf den mangelnden roten Faden seiner Werke aufmerksam machte) und die Bezeichnung „Plot“ hasst, der mit dem Literaturbetrieb in Deutschland abrechnet und konservative Schreiberschulen mit ebenso angegrauten Germanistik-Dozenten kritisiert. Ein sympathischer Chaot, der seine Strukturlosigkeit genauso in seinem Roman auslebt – mit Stolz und ohne Rücksicht auf sein Publikum. „Ich kann niemanden zwingen, das gut zu finden.“ Thomas Kunst selbst hat nie Germanistik studiert.

    „Architektur der Tiefgründigkeit“?

    Prägnant für sein neustes Werk, das in fiktionalen Städten und Dörfern spielt, ist das ermüdende, vom Autor selbst zurecht als „lähmendes“ bezeichnete Erzählprinzip der Wiederholungen, das den Leser anstrengt und Thomas Kunst als gedankliche Stütze nutzt, um sich in seinem Text (wieder) zurechtzufinden. Klar im Vordergrund muss hier vermerkt werden, dass Kunst nicht von seiner Schriftstellerei lebt (Broterwerb ist die Arbeit in der Leipziger Nationalbibliothek) und deshalb über Jahre an seinen Büchern schreiben kann – an seinem neuesten Buch über fünf Jahre –, meist nur im Krankheitsfall, im Urlaub oder an einigen Sonntagen, wenn er die Lust dazu verspürt. Extrem intuitives Schreiben also. Und persönliche Marotten wie fehlende Fragezeichen, bevorzugte Verwendung des „ß“ usw.
    „Wenn ich in meinem Leben die Bücher durchgehe, die mich zur Weißglut gebracht haben, dann waren das die, die mich geprägt haben.“ sagt der musikalisch vielseitige Wahl-Leipziger, der zu seinem neuem Roman „Freie Folge“ einen Soundtrack komponierte. Ein Autor, der seine Leser bewusst mit vermeintlicher Strukturlosigkeit nervös machen möchte, der Genre-Diskussionen provoziert – und sich zwischen dem Bewusstsein seiner Angriffsfläche und einer überzogen gelassenen „Entgegen-der-Norm“-Haltung zerreibt.
    Das Problem: Wer sich um seine Zielgruppe nicht schert, der hat unter Umständen keine – so geschehen zum Termin der ersten Lesung des neuen Romans am 14. September in Dresden, die ausfiel, weil niemand kam. Ebenfalls fraglich ist, ob Kunsts Buch seine Leser durch seine aufgezwungen authentische Art so prägen wird, wie vom Autor erhofft. Denn Fakt ist: „Freie Folge“ ist schon für Literaturwissenschaftler schwere Kost, was Kunst Aussage widerlegt, das Werk könne ohne entsprechende literarische Vorbildung verstanden werden. Das neue Buch benötigte ein Glossar, um die Fachbegriffe der Jägersprache zu erklären. Thomas Kunst war selbst nie Jäger.

    „Ich hoffe, ihr haltet das aus.“

    Die zweite Lesung zu Thomas Kunst viertem Roman „Freier Folge“ fand am 1. Dezember 2015 in der Leipziger Nationalbibliothek statt. In gut sechzig Minuten präsentierte der Schriftsteller fünf Auszüge aus seinem neuen Werk, abgewechselt von atmosphärischen jazzig-improvisierten Klavierbegleitungen des befreundeten Leipziger Pianisten Ralf-Ingo Pampel im dunkelroten Mittelalter-Hemd. Das Publikum bestand aus ehemaligen Kollegen der Nationalbibliothek, deren Humor der freigeistige Lockenkopf mit seinem Roman wohl traf – so das Gelächter aus diesen Reihen – und einer Seminargruppe Dresdner Germanistik-Studentinnen, die das Werk zuvor hatten rezensieren und den Künstler zum Interview hatten treffen dürfen. Und so tauchten die dankbaren Hörer in die Zumutung ein, die Thomas Kunst ihnen bot, sich immer wiederholende Phrasen („Und was weiß ich noch alles“ oder „Du weißt doch, dass ich immer nur Spaß mache“), ob nun in Grönland mit hübscher Eskimo-Frau Pipaluk, in L. A. oder Hohendreesen mit rumänischem Au-Pair-Mädchen mit Escort-Vergangenheit. Thomas Kunst hat die wenigen realen Schauplätze seines Romans nie bereist.

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